Samstag, 5. Dezember 2015

Nailas Familie

Namenszug Naila als Logo

Nennen wir sie Naila.

Naila heißt allerdings nicht wirklich Naila. Aber ich möchte hier einen Teil ihrer Geschichte erzählen. Und um sie zu schützen, gebe ich ihr einen neuen Namen. Einen der - wie ich finde - ebenso gut zu ihr passt wie ihr eigener.

Naila ist ein arabischer Name. Er bedeutet unter anderem: "Die besonders Schöne", "Die mit den großen Augen" und - last, but not least - "Die Willkommene".

Naila ist ein schönes Mädchen. Sie hat schulterlanges, dunkles Haar, ein hübsches, freundliches Gesicht und sehr große, braune Augen. Augen, die leuchten können, wie nur Kinderaugen leuchten. Augen, in denen man sieht, wie aufgeweckt sie ist. Augen, in denen aber auch schon Tiefe und eine gewisse Traurigkeit steckt. Denn Naila ist zwar erst zehn, aber sie hat schon eine Menge erlebt.

Naila wurde 2005 in Syrien geboren, hat dort seit Jahren Krieg und Terror erlebt und ist - wie tausende anderer Menschen in diesem Jahr - aus ihrem Heimatland geflohen. Seit ungefähr sechs Monaten lebt sie in Deutschland, und ich versuche zusammen mit etwas mehr als einem Dutzend Menschen dazu beizutragen, dass sie sich hier fühlt, wie es ihr Wahlname verspricht: als Willkommene.

Wenn man so will, ist Naila so etwas wie unser Patenkind. Wir fühlen uns inzwischen auch schon ein wenig wie "Nailas Familie" - und nennen uns ab und zu auch so. Naila hat jedoch nicht nur uns, sondern vor allem auch Vater, Mutter und vier Schwestern. Sie ist die mittlere Tochter, ein "Sandwich-Kind" sozusagen.

Naila ist jedoch ohne ihre Familie aus Syrien geflohen. Sie hat sich mit ihrer Tante und einem Cousin auf den Weg gemacht, hat das Meer in einem Schlauchboot mit 40 Personen überquert, ist zu Fuß durch den hohen Schnee in den serbischen Bergen gewandert und hat - in Deutschland angekommen - hier den gesamten langwierigen Prozess von der Registrierung bis zur Asylbewilligung durchlaufen. Naila darf zunächst bis zum Sommer 2018 bleiben. Sie hat schon angefangen, hier die Schule zu besuchen, und kann bereits ganz gut deutsch.

Buntes Logo mit dem Namen Naila

Vor ein paar Tagen ist Naila endlich aus dem Flüchtlingsheim, in dem sie sich bislang mit ihrer Tante ein etwa 15 Quadratmeter großes Zimmer teilte, in eine kleine Wohnung gezogen. Dort findet sie hoffentlich eine Art Zuhause. Es wird allerdings nur ein Zuhause auf Zeit sein. Und das ist gut so*.

Denn so bald wie möglich soll Naila wieder mit ihren Eltern und Schwestern vereint sein. Ihre Familie ist ein paar Monate später als die Tochter aus Syrien aufgebrochen und vor ein paar Wochen - ebenfalls wohlbehalten - in Deutschland angekommen. Allerdings sind Nailas nächste Verwandte noch nicht registriert, ihr Status ist unklar und sie sind deshalb derzeit in einer Art Container in einem Flüchtlingslager in Hamburg untergebracht: 16 Menschen bewohnen etwa 25 Quadratmeter. Einen Raum, der mehr oder weniger aus Betten besteht und nur ein Fenster hat, aber immerhin warm, sauber und sicher ist.

Naila ist also im Moment mehr oder weniger allein**. Zumindest ist sie von ihren liebsten Menschen seit Monaten getrennt - für ein Mädchen muss sich das anfühlen wie eine kleine Ewigkeit an Einsamkeit. Ende September hat sich Nailas Familie allerdings kurz wiedergesehen. Drei Nächte haben sie zusammen in Berlin verbracht. Zwei unter freiem Himmel - und eine in einer provisorischen Notunterkunft. Und da kommen "Nailas Familie" und ich so langsam ins Spiel.

Bei besagter Notunterkunft handelt es sich nämlich um, wenn man so will, mein "zweites Wohnzimmer": Einen Ort, den ich seit vielen Jahren an beinahe jedem Wochenende sowie an hohen Fest- und Feiertagen besuche, um dort Freunde zu treffen und vor allem um dort Tango zu tanzen. Die alte Fabriketage ist vor einigen Jahren zu einem sehr schönen Saal für Milongas, also für Tango-Veranstaltungen, umgebaut worden. Es ist ein Ort, an dem ich schon sehr viel erlebt habe: schöne Tänze, gute Gespräche, tolle Begegnungen und ausgelassenes Feiern. Und manchmal auch das Gegenteil davon. Aber das ist eine andere Geschichte - und soll ein anderes Mal erzählt werden***.

Seit einiger Zeit ist der Tanzsaal mehr als eine "Vergnügungsstätte": Als der Zustrom geflohener Menschen im Sommer so groß wurde, dass er für die offiziellen Stellen nicht mehr zu bewältigen war, begannen einige Tänzer sich für die Flüchtlinge einzusetzen. Unter anderem haben sie meinen Lieblings-Tango-Ort in manchen Nächten für Menschen als Schlafplatz zur Verfügung gestellt. Spätabends werden seitdem jeweils 20 bis 30 Flüchtlinge vor dem LaGeSo, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, wo die Ankommenden sich in Berlin registrieren lassen müssen, "aufgesammelt" und zu den improvisierten Schlafstätten gebracht.

In den Farben des Regenbogens - der Name Naila

Eines Nachts war auch eben jenes syrische Elternpaar mit ihren fünf Töchtern unter denjenigen, die zur "Tangofabrik" gebracht wurden. Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht an der Flüchtlingshilfe beteiligt. Für mich war das alles nur eine ferne Nachricht - und ich hatte nicht mehr als lediglich am Rande zur Kenntnis genommen, dass sich Menschen aus meinem Umfeld, die mein Hobby teilen, für sie engagieren.

Zwei von ihnen schlossen Naila in dieser Nacht ins Herz - so sehr, dass sie ihrem Schicksal nachspürten. Sie fanden heraus, dass Naila mit ihrer Tante in Berlin blieb, während die übrige Familie nach Hamburg weiterreisen musste. Die familiäre Trennung, die vermutlich durch ein behördliches Versehen in all dem Durcheinander der Zigtausend entstanden ist, berührte die beiden so sehr, dass sie Abhilfe schaffen wollten. Ein Facebook-Aufruf brachte schließlich alles ins Rollen: In kurzer Zeit fand sich - dem sozialen Netzwerk sei Dank - eine Schar "Paten" zusammen, die nun gemeinsam das Ziel teilen, Nailas Familie wieder zusammenzubringen - und sie womöglich auch danach noch ein Stück beim Ankommen und Integrieren zu begleiten.

Wir haben Naila inzwischen ein paar Mal besucht, genauso ihre Familie in Hamburg. Wir haben Medikamente besorgt, Warmes zum Anziehen, kleine Leckereien, Bücher - einfach ein paar Sachen, die notwendig sind, und ein paar, die Freude machen. Wir kümmern uns darum, dass Eltern und Kinder ärztliche Versorgung finden, wenn sie nötig ist. Wir befassen uns auch damit, wie die Neuankömmlinge möglichst gut und schnell deutsch lernen können. Und natürlich unterstützen wir die Familie nach Kräften dabei, dass sie bald wieder zusammen sein kann. Das konfrontiert uns auf - sagen wir - lebendige Weise mit dem Asylrecht, mit überlasteten Behörden, mit Anwälten. Es gibt uns einen anderen Bezug zu dem, was Fernsehsender und Zeitungen täglich berichten, weil wir es nicht mit einer anonymen Masse, sondern mit realen Menschen zu tun haben.

Mit all dem, was wir tun,  versuchen wir, "Willkommen" zu sagen. Wir versuchen, mit Rat und Tat da zu sein, aber auch mit dem Herzen - und hoffen, es kommt an.

Die Begegnungen mit Naila und ihrer Tante, die ich bislang hatte, sind jedenfalls berührend, nicht immer problemlos, aber manchmal durchaus auch witzig und immer menschlich verlaufen. Als ich Naila zum Beispiel das erste Mal besucht habe, war ich mehr als gerührt: Das fremde Mädchen aus einer mir noch fremderen Welt kam mir gleich mit einer Umarmung entgegen und kuschelte sich kurze Zeit später auf meinen Schoß. Sie ließ sich bei den Hausaufgaben helfen, blätterte mit mir ein Bilderbuch durch und zeigte mir ihre Schätze - die Schätze einer Zehnjährigen, die allerdings recht wenig besitzt: ein paar Kuscheltiere, einen Lillifee-Malblock, Stifte - und einen Ohrstecker. Den anderen habe eine ihrer Schwestern. So sorgen die beiden über die Entfernung für Verbundenheit.

An diesem Abend lud uns die Teilfamilie zum Essen ein und teilte sehr gastfreundlich das Wenige mit uns, das sie haben. Ich habe das erste Mal wirklich arabisch gegessen - auf dem Boden sitzend und mit den Händen essend. Schmunzeln musste ich als Nailas Cousin meinte, er fände es komisch, dass wir hier nur dunkles Brot äßen. Das sei doch sicher ungesund. Ich lachte und meinte, hier würden viele genau das Gegenteil annehmen und auf keinen Fall weißes Brot essen wollen.

Was ich als bereichernd an dieser Patenschaft erlebe: Wir lernen voneinander, treffen uns von Mensch zu Mensch - und auch ich habe mich bei dieser Begegnung willkommen gefühlt. Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass natürlich nicht alles eitel Sonnenschein ist. Es ist zuweilen schwierig und anstrengend. Es treffen nach wie vor sehr verschiedene Menschen mit recht unterschiedlichen Wertesystemen und kulturellen Hintergründen aufeinander. Das kann zuweilen sehr (heraus-)fordernd sein. Ich habe deshalb lernen müssen, dass man sich als Helfer abgrenzen und auch emotional auf sich achten muss.

Autokennzeichen: NAI-LA

Aber ich bin mit all diesen Erfahrungen (und manchmal auch Belastungen) nicht allein - die Menschen, die ich seit Jahren sehe, wenn wir fröhlich tanzen und feiern, sind innerhalb kurzer Zeit ziemlich nah zusammen gewachsen. Auch wir lernen uns neu und von anderer Seite kennen. Wir sind füreinander da, unterstützen und ergänzen uns. Das funktioniert auf eine erstaunliche Weise, so dass wir alle schnell gespürt haben: Es geht hier nicht nur um Nailas wahre Familie, auch wir werden so etwas wie ihre - und unsere - Familie. Möge es so bleiben. Denn wir haben noch ein ganzes Stück Weg vor uns, wenn wir Naila weiter begleiten wollen. Und das wollen wir.

Nailas Name hat übrigens noch eine Bedeutung: Er heißt übersetzt auch "Eine, die ihre Ziele erreicht". Und das wünscht ihr ihre Paten-"Familie" von Herzen!


P.S:
Wer meinen Blog inzwischen ein wenig kennt, wird sich jetzt vermutlich nicht darüber wundern, wie ich auf den Namen "Naila" kam, der so wunderbar zu dem Mädchen und ihrer Geschichte passt. Es war ein Freyzeichen!

Seit ein paar Wochen parkt direkt vor meiner Haustür immer wieder ein Auto mit dem Kennzeichen NAI-LA. Es fiel mir ständig ins Auge, ich fragte mich, was das soll - und irgendwann wusste ich, was ich damit anzufangen habe… :)


* frei zitiert nach Klaus Wowereit

** Minderjährige Kinder, die nicht in Begleitung eines Verwandten ersten Grades sind, werden im Amtsdeutsch "Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge", kurz UmF, genannt. Man könnte sie auch als "unsichtbare Kinder" bezeichnen: Sie werden - meist isoliert von erwachsenen Flüchtlingen - in eigenen Einrichtungen untergebracht. Darüber ist recht wenig bekannt. Es gibt in Berlin jedoch die Initiative UmKinder, die das ändern möchte.
Naila hat insofern übrigens Glück im Unglück: Sie hat ihre Tante dabei, die sie in Pflege nehmen konnte. So hat sie jedenfalls etwas familiären Rückhalt.

*** frei zitiert nach Michael Ende, "Die unendliche Geschichte"

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