Donnerstag, 24. Dezember 2015

Ortswechsel - Über das Reisen und Oslo im Dezember

Skulptur des norwegischen Künstlers Munch an einem Wintertag
„Wie kommst du auf die Idee, mitten im Winter nach Norwegen zu fahren?“ Als ich kürzlich stolz meine Reisepläne verkündete, wurde ich das mehr als einmal – fast verwundert - gefragt. „Ich phantasiere dauerdunkel“, schrieb eine Freundin. Ich erwiderte: „Ich auch – und bitterkalt“.

Ich bin zwar eigentlich ein Sonnenmensch, die zu erwartende Witterung konnte mich aber trotzdem nicht abschrecken. Mein Entschluss stand fest: „Ich will weg! Mal wieder raus aus Berlin, Abstand zum Alltag gewinnen, was Neues entdecken – warum nicht Norwegen?“

Solches Reisefieber hatte ich, ehrlich gesagt, schon lange nicht mehr. Vor lauter Vorfreude auf Oslo bin ich in Berlin förmlich durch die Straßen gehüpft. In letzter Zeit war ich selten über die Stadt- und schon gar nicht über die Landesgrenzen hinaus gekommen – allerdings ein freiwillig gewähltes „Schicksal“: Zu reisen hatte ich lange nicht vermisst. 

Früher war das anders. Da war ich mindestens einmal im Jahr irgendwohin unterwegs. Ich bin durchaus schon herumgekommen – von der amerikanischen Ost- und Westküste bis nach Sankt Petersburg in Russland, von Dänemark bis Italien und Spanien. Immer wieder hat es mich ans Meer gezogen: zur Nord- und an die Ostsee, aber am liebsten ans Mittelmeer. Diverse europäische Hauptstädte habe ich auch schon, teils mehrfach, erkundet: Amsterdam, London, Paris, Budapest, Wien, Warschau und Vilnius. Diese Reihe wollte ich eigentlich längst fortsetzen, aber ich hatte eben zuletzt einen inneren Reisestopp.


Blick auf den Hafen von St. Peter Port, Guernsey vom Arbeitszimmer des Schriftstellers Victor Hugo aus
Mein bis dato letzter Auslandstrip: Vor vier Jahren habe ich eine (viel zu) kurze Zeit auf der Kanalinsel Guernsey verbracht. Streng genommen war das kein Urlaub, sondern Arbeit. Aber angenehme! Ich war vier Tage dort, habe - dank der tollen Pressebetreuung - viel gesehen und eine Reisereportage über das Eiland im Ärmelkanal geschrieben - leider nur noch kostenpflichtig und in einer Kurzform im Netz…

Bunte Wegweiser auf dem Wanderweg entlang der Küste auf der Kanalinsel SharkAls verhinderte Britin hatte ich mich sowieso gleich in Guernsey verguckt - in die adretten Cottages überall auf der Insel, das malerische Hafenpanorama der Hauptstadt St. Peter Port, die wunderschönen Wanderwege an der Küste entlang und sogar in die Kühe. Es handelt sich nämlich um eine spezielle Rasse: gutmütig grasende, brünette Tiere, die eine besonders fettreiche Milch geben, aus der die - meines Erachtens - beste, sattgelb strahlende Butter und das leckerste Eis gemacht wird. Da läuft mir heute noch das Wasser im Mund zusammen.

Wenn ich verreise, bemühe ich mich immer um ein möglichst intensives  „Eintauchen“ in die andere, neue Welt. So kann ich für eine kurze Zeit in eine andere Haut schlüpfen. Ich mag es mir vorzustellen, wie es wäre, würde ich am Urlaubsort leben. Ich frage mich auch: Wenn ich dort aufgewachsen wäre - wäre ich ein anderer Mensch, hätte ich andere Charakter- und Wesenszüge? Ich möchte wissen, wie das Leben sich anderswo anfühlt: Wie riecht es dort, wie ist die Stimmung, was essen die Menschen, wie verbringen sie ihren (All-)Tag?

Leuchtende Weihnachtsbäume auf einem Steg im Hafen von OsloDas ging mir schon als Kind so, als meine Eltern mit uns häufig in die Niederlande fuhren. Ich ließ mich bereitwillig auf das wabbelige Weißbrot und andere kulinarische Fragwürdigkeiten wie „Frikandeln“ ein - genauso wie auf das „Fietsen“, das Radfahren auf den typischen Hollandrädern mit knackender Drei-Gang-Schaltung, falls überhaupt eine vorhanden war. Damit ging es vorzugsweise an den typischen kleinen Grachten entlang - und gefühlt IMMER gegen den Seewind. Ich habe Sprache, Lebensgewohnheiten und alles Ungewohnte mit großer Neugier entdeckt.

Meiner „Schwiegermutter“ fiel das vor gut 20 Jahren besonders auf: Ich war mit meinem damaligen Freund und dessen Eltern am Balaton. Meine Fast-Familie verbrachte seit Jahren den Sommerurlaub am Plattensee. Ich dagegen war das erste Mal mit ihnen in Ungarn und überhaupt im östlicheren Teil Europas unterwegs. An einem der letzten Urlaubstage hatten wir einen Ausflug nach Tihany gemacht. Das kleine, malerische Dorf am Balaton liegt etwas erhöht. Ich genoss gerade den Ausblick auf den See und hörte sie ihrem Mann zuflüstern: „Wir waren schon so oft hier, aber mit Andrea ist das irgendwie anders. Das ist, als sähe ich das hier zum ersten Mal. Sie nimmt alles so intensiv auf.“

Plan der U-Bahn in OsloUm ein Gespür für das Verschiedene, das Fremde zu bekommen, interessiert mich übrigens auch Banales, die Produkte in den Supermarktregalen zum Beispiel. Das steht wahrscheinlich nicht bei vielen als „Sehenswürdigkeit“ auf der To-Do-Liste, wenn sie verreisen. Bei mir gehört es dagegen dazu, einen sorgfältigen Blick auf das Supermarktsortiment vor Ort zu werfen – und gegebenenfalls ein paar spannende Produkte auszuprobieren. 

Kulinarisch mache ich allerdings nicht alles mit, was mir mein Gastland anzubieten hat. Bei Tapirbraten, Maden im Speck oder gegrillten Schweinsfüßen wäre bei mir definitv Schluss. Ich habe, als ich mit 17 erstmals in Frankreich – in Paris - war, schon bei Escargot den Geschmackstest verweigert. Und jüngst – endlich sind wir wieder in Olso und in der Gegenwart – verschmähte ich auch Elchburger.

Eingang des Opernhauses in OsloWarum also Oslo - im Dezember? Freunde von mir hatten für ihre Urlaube dieses Jahr weit exotischere Ziele gewählt: die Malediven, Thailand oder sogar die Mongolei. Ich überlegte: Entweder auch ich fliege der Sonne entgegen– oder starte ein komplettes Kontrastprogramm. Ich entschied mich für Letzteres. Vielleicht käme ich im Norden in Winter- und Weihnachtsstimmung?

Skandinavien hatte mich schon lange gereizt: Vor vielen Jahren schwärmte mir eine Studienfreundin wieder und wieder von ihrer tollen Zeit in Oslo vor. Das hatte ich noch im Ohr - und die Bullerbü-Bücher meiner Kindheit im Hinterkopf. Außerdem war ich schon mehrfach eingeladen worden, die norwegische Hauptstadt zu besuchen. Das war ganz in meinem Sinne: Ich hätte Gesellschaft einer „Einheimischen“ und damit eine Portion Alltag inklusive. Gedacht, gebucht - Going North

Ich rechnete mit erheblichen Minusgraden – und suchte schon mal die Skihose raus, die sich meiner Vorstellung nach auch als praktisches Outfit für Stadtspaziergänge bei frostigen Temperaturen eignen könnte. Am Tag vor der Abreise kam aber Entwarnung: Nieselregen bei leichten Plusgraden. „Lieber eine wasserfeste Jacke einpacken“, hieß es in der SMS aus Oslo. Gute Wetteraussichten waren das nicht. Ich befürchtete Schlimmstes. 

Menschen auf dem Dach der Osloer Oper im SonnenuntergangAber Oslo meinte es gut mit mir: Als ich ankam, klarte der Himmel auf, die Sonne schien. Sie stand zwar mittags schon auf „halb acht“, also recht tief, aber das machte ein umso schöneres Licht. Das zeigt sich auf den meisten Fotos, die ich „geschossen“ habe - vor allem auf denen am Hafen, auf denen, die ich von der alten Festung aus, die den Fjord überragt, gemacht habe sowie auf denen, die auf der Oper geknipst wurden. 

Der moderne Bau liegt ebenfalls am, eigentlich im Wasser und man kann ihm tatsächlich aufs Dach steigen. Je höher man klettert, umso mehr muss man allerdings dem - zumindest manchmal - starken Meereswind trotzen. Durch den Sonnenschein und die gefühlt lange Sonnenauf- und -untergangs-Stimmung war das „Dauerdunkel“ gar nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Richtig schön wurde es, als die Temperaturen auf Minus zwei bis vier Grad fielen: Alles überzog sich mit einer glitzernden Schicht Rauhreif – dadurch kamen besonders die Skulpturen von Vigeland, dem neben Munch bedeutendsten Künstler Norwegens, gut zur Geltung. Sie sind überall im Stadtbild, vor allem aber in einem Park ganz in der Nähe meiner Osloer Wohnstätte zu finden.

Wolken und Meer im Sonnenuntergang - Osloer WinterIch ließ mich von Oslos Charme und Zauber so richtig einfangen. Der begann für mich bereits im Untergrund, in der T-bane. Die Stationen sind teils nicht nur toll gestaltet, sondern mit wohlklingenden Namen versehen. Ich jedenfalls versuchte mir vorzustellen, wie es wohl ist, wenn man bis "Bergkrystallen" fährt und dort aussteigt. Auch Grønland klang interessant. Iglus und Inuit findet man dort zwar nicht vor, dennoch ist es eine andere Welt: Es ist ein Multikulti-Viertel und erkennbar nicht so wohlhabend wie der Rest der Stadt. Man könnte es das Neukölln von Oslo nennen. 

Auch sonst kann Oslo eine Stadt der Kontraste sein: Ich besuchte Gamle Oslo, das nicht etwa gammelig, aber alt ist, und modernere Stadtteile wie Tjuvholmen, ein sehr neues Einkaufs- und Ausgehviertel. Klar war ich auch in Grünerløkka, dem Prenzlberg vergleichbar, und habe dort - das macht man hier wie dort so - lange in einem netten Café gesessen. Nur die Preise sind deutlich anders! 

Ich genoss im Übrigen auch den freundlich-melodischen Klang der Sprache um mich herum, der irgendwie putzig ist. Jedenfalls freute ich mich immer auf die warme Frauenstimme, die bei der Abfahrt von Stortinget, Nationaltheateret oder Majorstuen ankündigte: „Dørene lukkes!“ (Türen schließen). Glaubt es oder nicht: Das hört sich wirklich schön an!

Der Eingang des Peace Centers in OsloIch war übrigens zu den Nobeldagene, der Verleihung des Friedensnobelpreises und den Feierlichkeiten rundherum, angereist – das war Zufall, aber ein schöner. Am Tag der Zeremonie hatte ich mich einfach durch die Innenstadt treiben lassen - vom Hauptbahnhof bis zum Schloss über den Weihnachtsmarkt samt Eisbahn, vorbei an Kathedrale und Parlament, durch die Einkaufsmeile mit Läden wie „Mood of Norway“ oder „Stress“. Beide Läden betrat ich nicht: A) Ich war schon in meiner besten norwegischen Laune. B) Vielleicht eine skandinavische Seltsamkeit? In Oslo wirkt alles so ruhig und relaxt, dass man anscheinend meint, sich ein bisschen belebende Aufregung kaufen zu müssen. Ich jedoch verzichtete dankend – ich wollte die Hektik ja hinter mir lassen.

Kontur des Rathauses von Oslo, Norwegen im GegenlichtSchließlich landete ich vorm Rathaus – und war pünktlich zur Ankunft der Staatsgäste am Platz. Die Limousinen rauschten dicht an mir vorbei, vor mir ein bärig-gemütlicher Polizist, der ein paar bewaffnete Kollegen, die sich etwas im Hintergrund hielten, dirigierte. Waffen seien ein neuer Anblick im Stadtbild, das habe es vor dem Amoklauf von Breivik nicht gegeben, klärte mich meine Gastgeberin später auf. Die Schaulustigen kamen dem Geschehen trotz der neuen Vorsicht nah genug, um einen Blick auf König, Königin und Mette-Marit zu erhaschen.

Selbstverständlich ließ ich mich auch wieder aufs Kulinarische ein. Wie gesagt, Elch aß ich nicht. Auch keinen Stockfisch. Dafür gab es morgens vollkornartiges Brot mit Beeren-Beimischung. Darauf süßlicher, seltsam brauner Käse. Das mag nicht appetitanregend klingen, schmeckte mir aber fantastisch. 

Ein Muss ist für mich stets auch die Verkostung der besten ortsüblichen Schokolade. Die Marke der Wahl heißt Freia. Was soll ich sagen? Sie ist köstlich! :) An Weihnachten gibt es sogar eine Special-Edition: Schokolade nicht als Tafel, sondern in Form einer Orange. Ebenso wie das Obst in Stückchen geteilt, nur ohne lästiges Pellen. Ich bin auf den Geschmack gespannt: Sie steht heute, an Heiligabend, auf meinem Menü.

Der beleuchtete Hafen in Tjuvholmen, Oslo, Norwegen
Á propos, ich kam auch dem Zweck meiner Reise näher: der Weihnachtsstimmung. Rauhreif-Romantik, festliche Beleuchtung im Stadtbild und eine Fahrt in der „Weihnachtstram“ haben den gewünschten Effekt erzielt. Nachmittags gegen halb fünf, schon im Stockdustern, stieg ich am Nationaltheater Richtung Majorstuen in die „Trikk“, eine blaue Straßenbahn. Vom Dach hingen Lichterketten wie glitzernde Eiszapfen herab und drinnen wurden amerikanische Weihnachtsklassiker wie „White Christmas“gespielt.

Ich habe versucht, mir solch ein Szenario in Berlin vorzustellen. Geht eher nicht, oder? Zu Oslo passte es aber irgendwie. Die strohblonden Mädchen um mich herum, eines im roten Mantel, eines in einem rosa Tütü, sahen sowieso schon aus wie nordische Weihnachtselfen. Ich rechnete auch jederzeit damit, dass Astrid Lindgren persönlich zusteigen und eine Geschichte erzählen würde. Von Michel, Madita oder Mio, aus Bullerbü oder Nangijala zum Beispiel.

Skulptur und schicke Standuhr im Osloer HafenDas tat sie natürlich nicht, wie auch? Aber irgendwie kam mir Oslo doch vor wie ein Weihnachtsmärchen. Der Alltag holte mich nur Stunden später wieder ein, als ich in Schönefeld – der Name ist ganz klar NICHT Programm - aus dem Flugzeug stieg, in den miesen Nieselregen hinaus trat und in der S-Bahn in mürrische, graue Gesichter schaute.

Egal, jetzt ist Weihnachten - und zumindest gefühlt wie in Oslo! 

GOD JUL!

P.S.:

Wie konnte ich nur vergessen, wie schön es ist, hinter jeder Ecke, um die man biegt, etwas Neues zu entdecken?  

Samstag, 5. Dezember 2015

Nailas Familie

Namenszug Naila als Logo

Nennen wir sie Naila.

Naila heißt allerdings nicht wirklich Naila. Aber ich möchte hier einen Teil ihrer Geschichte erzählen. Und um sie zu schützen, gebe ich ihr einen neuen Namen. Einen der - wie ich finde - ebenso gut zu ihr passt wie ihr eigener.

Naila ist ein arabischer Name. Er bedeutet unter anderem: "Die besonders Schöne", "Die mit den großen Augen" und - last, but not least - "Die Willkommene".

Naila ist ein schönes Mädchen. Sie hat schulterlanges, dunkles Haar, ein hübsches, freundliches Gesicht und sehr große, braune Augen. Augen, die leuchten können, wie nur Kinderaugen leuchten. Augen, in denen man sieht, wie aufgeweckt sie ist. Augen, in denen aber auch schon Tiefe und eine gewisse Traurigkeit steckt. Denn Naila ist zwar erst zehn, aber sie hat schon eine Menge erlebt.

Naila wurde 2005 in Syrien geboren, hat dort seit Jahren Krieg und Terror erlebt und ist - wie tausende anderer Menschen in diesem Jahr - aus ihrem Heimatland geflohen. Seit ungefähr sechs Monaten lebt sie in Deutschland, und ich versuche zusammen mit etwas mehr als einem Dutzend Menschen dazu beizutragen, dass sie sich hier fühlt, wie es ihr Wahlname verspricht: als Willkommene.

Wenn man so will, ist Naila so etwas wie unser Patenkind. Wir fühlen uns inzwischen auch schon ein wenig wie "Nailas Familie" - und nennen uns ab und zu auch so. Naila hat jedoch nicht nur uns, sondern vor allem auch Vater, Mutter und vier Schwestern. Sie ist die mittlere Tochter, ein "Sandwich-Kind" sozusagen.

Naila ist jedoch ohne ihre Familie aus Syrien geflohen. Sie hat sich mit ihrer Tante und einem Cousin auf den Weg gemacht, hat das Meer in einem Schlauchboot mit 40 Personen überquert, ist zu Fuß durch den hohen Schnee in den serbischen Bergen gewandert und hat - in Deutschland angekommen - hier den gesamten langwierigen Prozess von der Registrierung bis zur Asylbewilligung durchlaufen. Naila darf zunächst bis zum Sommer 2018 bleiben. Sie hat schon angefangen, hier die Schule zu besuchen, und kann bereits ganz gut deutsch.

Buntes Logo mit dem Namen Naila

Vor ein paar Tagen ist Naila endlich aus dem Flüchtlingsheim, in dem sie sich bislang mit ihrer Tante ein etwa 15 Quadratmeter großes Zimmer teilte, in eine kleine Wohnung gezogen. Dort findet sie hoffentlich eine Art Zuhause. Es wird allerdings nur ein Zuhause auf Zeit sein. Und das ist gut so*.

Denn so bald wie möglich soll Naila wieder mit ihren Eltern und Schwestern vereint sein. Ihre Familie ist ein paar Monate später als die Tochter aus Syrien aufgebrochen und vor ein paar Wochen - ebenfalls wohlbehalten - in Deutschland angekommen. Allerdings sind Nailas nächste Verwandte noch nicht registriert, ihr Status ist unklar und sie sind deshalb derzeit in einer Art Container in einem Flüchtlingslager in Hamburg untergebracht: 16 Menschen bewohnen etwa 25 Quadratmeter. Einen Raum, der mehr oder weniger aus Betten besteht und nur ein Fenster hat, aber immerhin warm, sauber und sicher ist.

Naila ist also im Moment mehr oder weniger allein**. Zumindest ist sie von ihren liebsten Menschen seit Monaten getrennt - für ein Mädchen muss sich das anfühlen wie eine kleine Ewigkeit an Einsamkeit. Ende September hat sich Nailas Familie allerdings kurz wiedergesehen. Drei Nächte haben sie zusammen in Berlin verbracht. Zwei unter freiem Himmel - und eine in einer provisorischen Notunterkunft. Und da kommen "Nailas Familie" und ich so langsam ins Spiel.

Bei besagter Notunterkunft handelt es sich nämlich um, wenn man so will, mein "zweites Wohnzimmer": Einen Ort, den ich seit vielen Jahren an beinahe jedem Wochenende sowie an hohen Fest- und Feiertagen besuche, um dort Freunde zu treffen und vor allem um dort Tango zu tanzen. Die alte Fabriketage ist vor einigen Jahren zu einem sehr schönen Saal für Milongas, also für Tango-Veranstaltungen, umgebaut worden. Es ist ein Ort, an dem ich schon sehr viel erlebt habe: schöne Tänze, gute Gespräche, tolle Begegnungen und ausgelassenes Feiern. Und manchmal auch das Gegenteil davon. Aber das ist eine andere Geschichte - und soll ein anderes Mal erzählt werden***.

Seit einiger Zeit ist der Tanzsaal mehr als eine "Vergnügungsstätte": Als der Zustrom geflohener Menschen im Sommer so groß wurde, dass er für die offiziellen Stellen nicht mehr zu bewältigen war, begannen einige Tänzer sich für die Flüchtlinge einzusetzen. Unter anderem haben sie meinen Lieblings-Tango-Ort in manchen Nächten für Menschen als Schlafplatz zur Verfügung gestellt. Spätabends werden seitdem jeweils 20 bis 30 Flüchtlinge vor dem LaGeSo, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, wo die Ankommenden sich in Berlin registrieren lassen müssen, "aufgesammelt" und zu den improvisierten Schlafstätten gebracht.

In den Farben des Regenbogens - der Name Naila

Eines Nachts war auch eben jenes syrische Elternpaar mit ihren fünf Töchtern unter denjenigen, die zur "Tangofabrik" gebracht wurden. Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht an der Flüchtlingshilfe beteiligt. Für mich war das alles nur eine ferne Nachricht - und ich hatte nicht mehr als lediglich am Rande zur Kenntnis genommen, dass sich Menschen aus meinem Umfeld, die mein Hobby teilen, für sie engagieren.

Zwei von ihnen schlossen Naila in dieser Nacht ins Herz - so sehr, dass sie ihrem Schicksal nachspürten. Sie fanden heraus, dass Naila mit ihrer Tante in Berlin blieb, während die übrige Familie nach Hamburg weiterreisen musste. Die familiäre Trennung, die vermutlich durch ein behördliches Versehen in all dem Durcheinander der Zigtausend entstanden ist, berührte die beiden so sehr, dass sie Abhilfe schaffen wollten. Ein Facebook-Aufruf brachte schließlich alles ins Rollen: In kurzer Zeit fand sich - dem sozialen Netzwerk sei Dank - eine Schar "Paten" zusammen, die nun gemeinsam das Ziel teilen, Nailas Familie wieder zusammenzubringen - und sie womöglich auch danach noch ein Stück beim Ankommen und Integrieren zu begleiten.

Wir haben Naila inzwischen ein paar Mal besucht, genauso ihre Familie in Hamburg. Wir haben Medikamente besorgt, Warmes zum Anziehen, kleine Leckereien, Bücher - einfach ein paar Sachen, die notwendig sind, und ein paar, die Freude machen. Wir kümmern uns darum, dass Eltern und Kinder ärztliche Versorgung finden, wenn sie nötig ist. Wir befassen uns auch damit, wie die Neuankömmlinge möglichst gut und schnell deutsch lernen können. Und natürlich unterstützen wir die Familie nach Kräften dabei, dass sie bald wieder zusammen sein kann. Das konfrontiert uns auf - sagen wir - lebendige Weise mit dem Asylrecht, mit überlasteten Behörden, mit Anwälten. Es gibt uns einen anderen Bezug zu dem, was Fernsehsender und Zeitungen täglich berichten, weil wir es nicht mit einer anonymen Masse, sondern mit realen Menschen zu tun haben.

Mit all dem, was wir tun,  versuchen wir, "Willkommen" zu sagen. Wir versuchen, mit Rat und Tat da zu sein, aber auch mit dem Herzen - und hoffen, es kommt an.

Die Begegnungen mit Naila und ihrer Tante, die ich bislang hatte, sind jedenfalls berührend, nicht immer problemlos, aber manchmal durchaus auch witzig und immer menschlich verlaufen. Als ich Naila zum Beispiel das erste Mal besucht habe, war ich mehr als gerührt: Das fremde Mädchen aus einer mir noch fremderen Welt kam mir gleich mit einer Umarmung entgegen und kuschelte sich kurze Zeit später auf meinen Schoß. Sie ließ sich bei den Hausaufgaben helfen, blätterte mit mir ein Bilderbuch durch und zeigte mir ihre Schätze - die Schätze einer Zehnjährigen, die allerdings recht wenig besitzt: ein paar Kuscheltiere, einen Lillifee-Malblock, Stifte - und einen Ohrstecker. Den anderen habe eine ihrer Schwestern. So sorgen die beiden über die Entfernung für Verbundenheit.

An diesem Abend lud uns die Teilfamilie zum Essen ein und teilte sehr gastfreundlich das Wenige mit uns, das sie haben. Ich habe das erste Mal wirklich arabisch gegessen - auf dem Boden sitzend und mit den Händen essend. Schmunzeln musste ich als Nailas Cousin meinte, er fände es komisch, dass wir hier nur dunkles Brot äßen. Das sei doch sicher ungesund. Ich lachte und meinte, hier würden viele genau das Gegenteil annehmen und auf keinen Fall weißes Brot essen wollen.

Was ich als bereichernd an dieser Patenschaft erlebe: Wir lernen voneinander, treffen uns von Mensch zu Mensch - und auch ich habe mich bei dieser Begegnung willkommen gefühlt. Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass natürlich nicht alles eitel Sonnenschein ist. Es ist zuweilen schwierig und anstrengend. Es treffen nach wie vor sehr verschiedene Menschen mit recht unterschiedlichen Wertesystemen und kulturellen Hintergründen aufeinander. Das kann zuweilen sehr (heraus-)fordernd sein. Ich habe deshalb lernen müssen, dass man sich als Helfer abgrenzen und auch emotional auf sich achten muss.

Autokennzeichen: NAI-LA

Aber ich bin mit all diesen Erfahrungen (und manchmal auch Belastungen) nicht allein - die Menschen, die ich seit Jahren sehe, wenn wir fröhlich tanzen und feiern, sind innerhalb kurzer Zeit ziemlich nah zusammen gewachsen. Auch wir lernen uns neu und von anderer Seite kennen. Wir sind füreinander da, unterstützen und ergänzen uns. Das funktioniert auf eine erstaunliche Weise, so dass wir alle schnell gespürt haben: Es geht hier nicht nur um Nailas wahre Familie, auch wir werden so etwas wie ihre - und unsere - Familie. Möge es so bleiben. Denn wir haben noch ein ganzes Stück Weg vor uns, wenn wir Naila weiter begleiten wollen. Und das wollen wir.

Nailas Name hat übrigens noch eine Bedeutung: Er heißt übersetzt auch "Eine, die ihre Ziele erreicht". Und das wünscht ihr ihre Paten-"Familie" von Herzen!


P.S:
Wer meinen Blog inzwischen ein wenig kennt, wird sich jetzt vermutlich nicht darüber wundern, wie ich auf den Namen "Naila" kam, der so wunderbar zu dem Mädchen und ihrer Geschichte passt. Es war ein Freyzeichen!

Seit ein paar Wochen parkt direkt vor meiner Haustür immer wieder ein Auto mit dem Kennzeichen NAI-LA. Es fiel mir ständig ins Auge, ich fragte mich, was das soll - und irgendwann wusste ich, was ich damit anzufangen habe… :)


* frei zitiert nach Klaus Wowereit

** Minderjährige Kinder, die nicht in Begleitung eines Verwandten ersten Grades sind, werden im Amtsdeutsch "Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge", kurz UmF, genannt. Man könnte sie auch als "unsichtbare Kinder" bezeichnen: Sie werden - meist isoliert von erwachsenen Flüchtlingen - in eigenen Einrichtungen untergebracht. Darüber ist recht wenig bekannt. Es gibt in Berlin jedoch die Initiative UmKinder, die das ändern möchte.
Naila hat insofern übrigens Glück im Unglück: Sie hat ihre Tante dabei, die sie in Pflege nehmen konnte. So hat sie jedenfalls etwas familiären Rückhalt.

*** frei zitiert nach Michael Ende, "Die unendliche Geschichte"

Freitag, 2. Oktober 2015

Mmmmmmh - oder: Eis, exotisch - ein Test

Tafel mit der Aufschrift Eis macht glücklich
Ich mag Eis – aber wer tut das nicht? Ich jedenfalls war schon als kleines Mädchen eine Eis-Naschkatze. Damals war Spaghetti-Eis in Mode gekommen. Ich mochte vor es allem deshalb, weil die Sahne unter dem Vanilleeis angefroren war - je langsamer man aß, umso mehr. Deshalb knackte es im Mund und schmeckte viel interessanter als "normale" Schlagsahne. Diese - mit Kinderaugen betrachtet - große Köstlichkeit bekam ich allerdings vergleichsweise selten. Häufiger durfte ich mir in meiner Lieblingseisdiele mit Namen "La Gelateria" - eine von zweien in meinem Geburtstort - eine Kugel Eis in der Waffel gönnen. Die gab es damals noch für taschengeldfreundliche 20 Pfennige!

Das Sortiment war übersichtlich, wuchs aber mit den Jahren. Meine Wahl fiel trotzdem meist auf Vanille oder Schokolade – oder beides. Eine Weile lang gab es allerdings auch Waldmeister-Eis, das ich sehr mochte. Diese Vorliebe teilten vermutlich nicht besonders viele Leute: Die Sorte verschwand leider schnell wieder aus dem Sortiment. Damals war es noch üblich, dass die Besitzer der Eisdielen landauf, landab den Winter über Richtung Heimat verschwanden. So auch die italienische Familie, die "meine" Gelateria führte. Pünktlich zum Herbstanfang verklebte sie die Fenster mit dem Papier, in das sie sonst das Eis für den Nachhauseweg einschlugen, und ließ uns ein langes halbes Jahr eislos in der norddeutschen Provinz zurück.

Ausweichsweise musste dann Eis am Stiel her – brauner Bär oder Nogger, kennt das noch wer? Das stand zum Beispiel auch bei ausgedehnten Besuchen im Freibad auf meiner Na(s)chspeisekarte. Damals wusste ich sogar Wassereis, vorzugsweise der Geschmacksrichtung Cola, zu schätzen. Über Farbstoffe und künstliche Aromen machte man sich damals noch keine Gedanken. Auch nicht über Bio, vegan, Laktose- und/oder Glutenfreiheit. Den deutlich ernährungsbewussteren Eltern heutzutage würden sich die Nackenhaare sträuben, fürchte ich, wenn ihr Nachwuchs sich von gezuckertem und gefärbtem Wasser würde "ernähren" wollen. :)

Insgesamt muss ich zurückschauend zugeben, dass ich bei der Wahl der Eissorten, mit denen ich mir Sonnentage versüßt habe, eher klassisch-konservativ war. Bis… 
Dazu kommen wir gleich.

Sonnenblauer SommerhimmelAuch in den vergangenen Jahren jedenfalls schlemmte ich Sommer für Sommer in guter alter Tradition meist Schokoladeneis. Neu war für mich die Kombination mit Pistazie. Das Ungewöhnlichste, was mir auf den Eislöffel kam, waren Chocolat Noir und Salzkaramell. Das ist allerdings meine absolute Lieblingskombination, seit ich vor einigen Jahren Berliner Boden betreten habe. 
Bezogen habe ich die Schlemmereien meist bei Caffé e Gelato“ in den Potsdamer Platz Arkaden, bei Vanille und Marille“, der „Eismanufaktur Berlin“ (beide Kreuzberg) und zuletzt bei „Dolce Freddo“ in Schöneberg.

Warum da? Weil diese Eisdealer eines gemeinsam haben: Sie waren jeweils fußläufig von meinen diversen Arbeitsplätzen aus erreichbar. Während der Sommermonate gab es an schönen Tagen also am Ende der Mittagspause oft noch einen köstlich-kühlen Nachtisch. Auch bei "Freddo" in der Maaßenstraße 6 blieb ich meist meinen Standardsorten treu. Schön dumm, wie sich jetzt herausstellt. Aus gut informierten Kreisen erfuhr ich nämlich allerjüngst, dass dort das Safran-Eis eine Art „Must have“ ist. Man muss aber zusätzlich wohl auch noch Glück haben: Die Sorte gibt es nicht ständig – und ist etwas teurer. Die Zutat aus Blütenstempeln bestimmter Krokusarten ist halt kostbar. Nachdem ich das nun weiß, komme ich nächsten Sommer unbedingt wieder, um zu probieren!

Manchmal habe ich mittags mit meinen Kolleginnen einen Ausflug noch ein Stück weiter die Straße hinunter zum Winterfeldtplatz gemacht. Mittwochs ist dort Markt und es gibt Street Food. Für einen kalten "Nachschlag" bietet sich vor Ort "Moccas Eis" am Rand des Marktplatzes an. In Experimentierlaune habe ich dort beim ersten Besuch endlich mal etwas Ausgefallenes ausgesucht: die Sorte Orange-Basilikum. Superlecker! Schade nur, dass es mein neues Lieblingseis selten gab. Alle anderen Sorten dort haben mich leider nicht ganz so angemacht. Das Meloneneis beispielsweise: viel zu süß, irgendwie künstlich und wahrscheinlich nicht aus frischer Frucht zubereitet. Also bin ich schnell wieder zu Dolce Freddo und meinen Lieblingskombinationen zurückgekehrt. Aber nicht für lange...

Mitte Mai, als das Frühjahr dieses Jahr langsam anfing schön zu werden und man den Sommer fast schon fühlen konnte, hat bei mir um die Ecke in der Danziger Straße ein Eisladen aufgemacht. Das Besondere: Die Schlemmereien dort sind ausschließlich vegan - Prenzlberg eben! :)

Aufsteller vor einer Eisdiele in Berlin Bislang hatte mich das betreffende Ladenlokal, an dem ich oft auf dem Weg von oder zur Tram vorbeikam, eiskalt gelassen: Jahrelang war dort nämlich ein Spezialgeschäft für japanische Süßigkeiten zu Hause. Kunden habe ich dort allerdings nicht so oft gesehen. Die Nische war möglicherweise zu klein – selbst für eine Metropole wie Berlin. Mit einem Eisverkäufer kann ich persönlich jedenfalls deutlich mehr anfangen. Allerdings: Eis ohne Milch, Sahne oder Joghurt? Ich lebe nicht vegan, ich bin nicht mal mehr Vegetarierin. Aber offen für Neues – vor allem, wenn es süß ist. :)

Als ich also eines Tages im Mai das „Kontor“ betrat, war ich neugierig und skeptisch zugleich. Ich schaute mir die Auslagen ausgiebig an: Es gab natürlich die Klassiker des Speiseeissortiments und sogar mein geliebtes Salzkaramell – doch auch allerhand ziemlich Exotisches. Und irgendwie entstand in dem Moment die Idee: Was, wenn ich mal genau die Sorten probiere, die ich sonst eigentlich nie nehmen würde? Und was, wenn ich das nicht nur hier, sondern auch in anderen Eisläden täte? Ein Sommerprojekt war geboren. Wahrscheinlich zeigte in diesem Moment die Orange-Basilikum-Erfahrung vom Winterfeldtplatz verspätete Wirkung.

Los ging´s: Ich bestellte mir eine Kugel Limette-Basilikum-Eis. Und damit fiel der Startschuss für meinen (völlig subjektiven) Test für exotische Eissorten im Sommer 2015.

In den folgenden Monaten habe ich mich durch lauter kleine, feine Eisläden geschlemmt. Bei meinen Recherchen war ich bald baff, wie viele tolle Eisdealer es allein in meinem und den benachbarten Kiezen im Prenzlauer Berg und in Mitte gibt. Handgemachtes Eis – mit Liebe und Fantasie zubereitet, jenseits der industriellen Produktion, die für mich inzwischen einen großen Teil seines Reizes verloren hat. 

Genau wegen der großen Auswahl im engsten Umkreis hat sich meine Eistesterei im Grunde auf meine nähere Umgebung beschränkt. Zum Abschluss der Testsaison habe ich allerdings etwas weitere Ausflüge unternommen - zu Woop Woop am Checkpoint Charlie zum Beispiel. Dort wird das Eis portionsweise frisch zubereitet - mit fast minus 200 Grad kaltem flüssigem Stickstoff. Sieht spektakulär aus und schmeckt gut. Und das Schöne: Man kann sich dort auf Wunsch auch besondere Eiswünsche erfüllen lassen. Stefan Raab ließ von Woop Woop Mett zu einer gefrorenen Schlemmerei verwursten. Ein anderer Kunde hatte dasselbe mit Curry-, ein weiterer mit Leberwurst im Sinn. Auch am Winterfeldtplatz war ich zum guten Schluss noch einmal, dort also, wo mein bis dato verborgenes Faible für exotisches Eis wohl seinen Anfang genommen hat. 

Und hier die Ergebnisse des Eistests - in order of appearance:

Eisbecher mit Eis der Sorte Limette-Basilikum
Kontor - vegane Eismanufaktur
Danziger Straße 65, Prenzlauer Berg.

Limette-Basilikum

Erfrischend, aber gewöhnungsbedürftig. Im Abgang war das Basilikum irgendwie unnötig bitter. Eher nur befriedigend...
Ich rate trotz des am Anfang ohnehin noch vorsichtigen Testurteils zu einem Besuch im Kontor! Allein wegen der Vielfalt und der kreativen Ideen der Besitzerin. Die serviert zum Beispiel auch Chia-Pudding, Reese's Pieces, Schwarzen Sesam, Mandarine, Quitte und Kürbis-Ingwer.

Eisbecher mit zwei Sorten Eis von Hokey Pokey, Prenzlauer Berg, Berlin
Hokey Pokey
Stargarder Straße 73, Prenzlauer Berg.

Zimt-Zitrone & Gurke-Gin Tonic

Das gewürzte Zitroneneis war frisch und angenehm sauer, genau das Richtige bei 30 Grad im Schatten! Die Geschmacksrichtung Gurke-Gin Tonic (mit Eukalyptus) war ebenfalls erfrischend und ist deshalb ein super Sommereis, aber sehr gurkig. Den Eukalyptus habe ich beim besten Willen nicht rausgeschmeckt, den Gin aber schon...

Eis aus der Eisdiele Naschkatze im Prenzlauer Berg
Naschkatze
Raumerstr. 8, Prenzlauer Berg.

Quark-Sesam & Minze 

Das Quark-Sesam-Eis wird in einschlägigen Foren im Internet hochgelobt. Mein Fall war die fast schon fade Kreation dagegen nicht. Muss nichts heißen, ich bin einfach kein Fan von Sesam-Körnern im Speiseeis. Mehr hat mich die "Minze" angemacht - genau richtig bei großer Hitze: erfrischend-süß und (nicht zu) intensiv. Schmeckt ein wenig wie ein Mojito im Eisbecher - ohne Alkohol allerdings.

Zwei Sorten Speiseeis von der Eidiele Rosa Canina, Filiale im Bötzowviertel, Berlin
Rosa Canina
Pasteurstr. 32, Bötzowviertel.

Himbeer-Basilikum & Mango-Lassi

Ein fruchtiges Dreamteam - das eine wunderbar himbeerig und erfrischend säuerlich (wo ist das Basilikum?), das andere mit maximalem Mango-Geschmack, angenehm süß.

Die Sorten sind teilweise lactosefrei, nicht übertrieben ausgefallen, vor allem aber eines: lecker.

Frozen Yoghurt mit Topping aus der Filiale in der Münzstrasse.
Yoli,
Münzstr. 11 C, Mitte.

Frozen Joghurt mit Granatapfeltopping

Kein Eis im klassischen Sinne - dennoch im Test: Frozen Yoghurt mit Granatapfel-Topping. Beides zusammen schön säuerlich und sehr erfrischend! 

Es gibt fast unübersichtlich viele Toppings und Soßen - fruchtig und schokoladig. Man kann auch mehrere kombinieren.

Eisbecher der Berliner Eisdiele Giorgio Lombardi
Giorgio Lombardi, 
Weinbergsweg 5, Mitte.

Schokolade & Banane-Ingwer

Dann doch mal im Test: ein Klassiker. Schokolade ist neben Vanille irgendwie die Königsdisziplin der Speiseeisherstellung. Mal sehen, wie das ein echter Italiener macht… 

Ich finde, großartig: sehr satter Schokogeschmack, cremig und schmelzig.

Ein guter Begleiter: Banane-Ingwer. Auch sehr reich im (Bananen-)Geschmack. Man merkt, dass frisches Obst verwendet wird. Was weniger stark hervorschmeckt, ist der Ingwer. Kommt allenfalls als leicht scharfe Endnote zum Tragen. Überzeugend!

Eis der Sorten Birne und Karamell von Bandy Brooks, fotografiert an der Spree
Bandy Brooks, 
Karl-Liebknecht-Str. 1, Mitte.

Birne & Karamell

Ein sonniger Sommerabend - die Gelegenheit, am Wasser ein Eis zu naschen. Bandy Brooks war ok, mehr aber auch nicht. Die Birne, zart säuerlich, schmeckt nach künstlichem Aroma. Besser: das Karamell, cremig schmelzend. Dürfte im Geschmack intensiver sein. Vielleicht bin ich von den Vorgängertests verwöhnt, dass ich mit Bandy Brooks so streng bin. Hat den Spreespaziergang trotzdem versüßt.

Cuore di vetro, 
Max-Beer-Str. 33, Mitte.

Tiramisu & Zitrone-Minze

Wieder Eis von einem echten Italiener: cremiges Tiramisu mit Biss in Form von Löffelbisquitstückchen und Zitronen-Minz-Eis: Citrus-sauer und mit merklichem Minzgeschmack. Die coole Kombi aus Frucht und Kraut wäre was für richtig heiße Sommertage. Doch auch im leichten Regen genossen war sie wirklich lecker. (Achtung: das Fruchteis hat mir den Gaumen etwas "verkühlt".)

Eiscafé Malibu, 
Knaackstr. 16, Prenzlberg.

Amadeus & Rhabarber

Marzipan, Karamell und Pistazienstücke: "Amadeus" schmeckt nach Mozartkugel im Eisbecher. Noch besser hat mir in der Eisdiele im Kollwitzkiez das Rhabarbereis geschmeckt: sauer, aber nicht zu sauer und sehr erfrischend. Da hier auch die sagenumwobenen Prenzlberg-Mamis ihren Kleinen ein Eis spendieren, gibt es auch die Sorte "Schlumpf" - die zu testen überlasse ich anderen ...


Gelati Eismanufaktur, 
Rykestr. 26, Prenzlauer Berg.

Sahne-Erdbeer-Balsamico & Latte-Minze

Die Testergebnisse habe ich vorab portionsweise schon auf Facebook veröffentlicht. Dieser Eistest vom 3. August sorgte angesichts des Bildes für Irritationen: Manche dachten, es handele sich um Eis der Geschmacksrichtung Mett. Mitnichten, das wäre selbst mir zu exotisch. Der Befund lautete: 

Das Erdbeereis ist schön sahnig und bekommt durch den Balsamico ein winziges Mü Säuerlichkeit. Das Milcheis ist wunderbar cremig, schmeckt aber leider kaum minzig. Könnte intensiver sein. War trotzdem schmackhaft.

Süsse Sünde, 
Weinbergsweg 21, Mitte.

Brolunder-Lavendel & Joghurt-Hibiskus

Auf den Geschmack von Lavendel im Eis war ich gespannt – habe ihn aber im Brolunder-Sorbet vermisst. Dazu war die Brombeere zu dominant. Sie machte es auch dem Holunder schwer. Trotzdem eine süsse Sünde wert. Noch besser fand ich die Mischung aus Joghurt und Hibiskus. Cremig, leicht säuerlich durch den Joghurt, aber mit angenehmer Süße durch die ungewöhnliche Zugabe. Hibiskussig gut!

Vanille & Marille, 
Hagelberger Str. 1, Xberg.

Birne "Gute Luise" & Macadamia-Tonka auf weißer Schokolade

Der Sommer neigte sich zum Zeitpunkt dieser Kostprobe dem Ende, und ich war auf meiner Eis-Reise bei einem meiner Lieblingsläden angekommen. Nostalgie hin oder her, ich habe dort was Neues ausprobiert: das tolle Sorbet "Birne Luise". Säuerlich, fruchtig, lecker! Dazu die Macadamia-Tonka: mild nussig und cremig.

Beides wirklich gut, aber keine Konkurrenz für meine Lieblingssorten hier: Edelschokolade plus Salzkaramell - und zwar in genau dieser Kombination! Auf Facebook kam der freundliche Hinweis, dass auch das Haselnusseis hier sensationell ist.

Woop Woop, 
Friedrichstr. 48, Mitte. (Charlie's Beach).

Peanutbutter-Himbeere & Espresso-Brownie

Yummi! Bei minus 200 Grad vor meinen Augen zubereitet. Tolle geschmackliche Mischung aus Erdnussbutter und Frucht. Die Himbeeren sind nicht bis zur Unkenntlichkeit püriert, sondern finden sich stückchenweise in der köstlich-cremigen Schlemmerei wieder. Ebenfalls super: Espresso-Brownie aus frisch aufgebrühtem und dann schockgefrorenem Kaffee. Herrlich intensiv!

Moccas Eis, 
Winterfeldtplatz, Schöneberg.

Erdnuss-Honig & Joghurt-Orange


Das Erdnuss-Eis hat mich - ehrlich gesagt - ein bisschen enttäuscht. Es schmeckte nussig, aber nicht wirklich erdnussig. Durch den Honig hatte es aber eine angenehme Süße. Viel besser kommt das Milch-Frucht-Gemisch weg: säuerlich und frisch, mit Orangenstückchen im Innenleben. Wirklich lecker, an heißen Sommer- und freundlichen Herbstagen!

Akemi,
Rykestraße 39, Prenzlauer Berg.

Grüner-Tee- & Mochi-Eis

Das exotischste Eis, das ich in diesem Sommer auf dem Löffel und der Zunge hatte, fand ich übrigens in einem Restaurant, dem Akemi in der Rykestraße: Zum Abschluss eines abwechslungsreichen Dinners aus diversen asiatischen Tapas fehlte nur noch das Dessert. Warum nicht Eis á la Asia? 

Das Grüntee-Eis war ziemlich gut und schmeckt – wie versprochen – intensiv nach grünem Tee, aber ohne bitter zu sein. Es ist vielmehr dezent süß. Im Vergleich kam es in diesem Moment aber nicht gegen das Mochi-Eis an. Hier steckt Eis aus schwarzem Sesam in einem Reisteigmantel Der gefrorene Teil (ohne Körner :)) für sich schmeckt kernig-sesamig. Wenn dann noch ein Stück Reisteig dazukommt, der genauso auf der Zunge zerschmilzt wie das Eis selbst: Sehr gut und ein krönender Abschluss der Saison!

Um einen berühmten Italiener zu zitieren: Ich habe fertig - und ziehe folgendes Fazit: Es lohnt sich definitiv, sich auf die Suche nach Berlins kleinen Eisläden zu machen, die sich oft in Seitenstraßen verstecken. Hier sind in der Regel Menschen am Werk, die ihr Handwerk verstehen - und lieben. Sie bereichern das Sortiment an Speiseeis um spannende Kreationen. 

Die Eis-Reise durch diesen Sommer war ein schönes Erlebnis und voller geschmacklicher Entdeckungen. Es hat mir großen Spaß gemacht. Und schon auf Facebook hat mein "Trip" seine Fans gefunden - hoffentlich auch hier. In jedem Fall wünsche ich allen viel Eis-Genuß. 

Enjoy and spread the news!

Montag, 14. September 2015

Lesen und lesen lassen

Zurzeit lebe ich in einem Ort unten an der südfranzösischen Küste. Jeden Morgen gehe ich im Meer schwimmen und lasse mich von Wasser und Wellen treiben. Das habe ich den ganzen Sommer über so gemacht, seit ich hier angekommen bin. 

Bis vor Kurzem habe ich in Paris gelebt, in 27 Rue Montagnard. Ich bin Buchhändler. Die Bezeichnung "literarischer Apotheker" trifft es allerdings besser. Denn ich "verschreibe" den Menschen, die zu mir kommen, das passende Buch zu ihrer Situation: Hat jemand Liebeskummer, eine berufliche Sinnkrise oder große Fragen an sich und seine Existenz?

Ich bin überzeugt: Für alles wurde schon das Richtige niedergeschrieben - von Orwell und Wilde oder von Ringelnatz und Kästner zum Beispiel. Mein Laden, die Barke "Lulu", lag lange angetäut am Ufer der Seine. Doch eines Tages, als mich meine Vergangenheit eingeholt hat, habe ich die Seile einfach gelöst und bin mit ihr, meinem Nachbarn - dem Schriftsteller Max - und meinen zwei Katzen Lindgren und Kafka quer durch Frankreich gefahren. Nicht um weiter wegzulaufen, sondern um meinen Frieden zu finden. Und das habe ich.


Zurzeit bin ich Jean Perdu, die Hauptfigur des "LITTLE PARIS BOOKSHOP", des Buches, das ich gerade lese. Ich bin ihm – auf meinem Balkon in der Sonne sitzend - durch Frankreich gefolgt, habe seinen Kummer geteilt und miterlebt, wie er neuen Lebensmut gefasst hat. Ich habe die vielen klugen Sätze in mich aufgenommen, die dieses Buch enthält – über das Leben, das Lesen, das Lieben und das Leiden beziehungsweise darüber, wie man es überwinden kann.

Jeans Geschichte ist eine Geschichte, wie ich sie mag. Eine Geschichte, die mich mitnimmt in eine andere Welt. Und eine, aus der ich lernen kann. Genauso, als hätte ich Jean Perdu auf der „Lulu“ um einen Buchtipp gebeten und er hätte zielgenau exakt dieses Buch für mich aus dem Regal gezogen.
… Perdu reflected that it was a common misconception that booksellers looked after books. They look after people ...
- The Little Paris Bookshop -  
Geschichten haben mich von Klein auf fasziniert. Ich konnte meiner Oma stundenlang zuhören, wenn sie mir aus "BAMBI", dem "ROSEN-RESLI", "TANNENWALDS KINDERSTÜBCHEN" oder "GRIMMS MÄRCHEN" vorgelesen hat. Als ich endlich selber lesen konnte, bin ich "RONJA RÄUBERTOCHTER" auf ihren Streifzügen durch die schwedischen Wälder gefolgt, habe als einer von "EMIL UND DIE DETEKTIVE" das Berlin der Zwanziger Jahre nach dem gemeinen Gelddieb durchkämmt, war mit "HANNI UND NANNI" und ihren Freundinnen in England im Internat, habe mit Bastian und Atreju in der "UNENDLICHEN GESCHICHTE" versucht, Fantasien - das Reich der Kindlichen Kaiserin - vor dem Nichts zu bewahren oder wollte zusammen mit "MOMO" die Welt vor den Zeitdieben retten.

Ich habe, glaube ich, nie wieder so intensiv gelesen, wie als Mädchen – sonntags morgens unter der warmen Decke mit ein paar Schokobonbons, die mir die Zähne verklebt haben, jeden Abend mindestens eine halbe Stunde vorm Einschlafen, in meinem Lieblings-Ohrensessel im Wohnzimmer meiner Eltern, im Urlaub an Badesee oder Nordseestrand und an jedem anderen möglichen Ort. Ich bin damals ganz eingetaucht in die Welt der Bücher und konnte beim Lesen alles um mich herum vergessen.
… Some novels ar loving, lifelong companions; some give you a clip around the ear; others are friends who wrap you in warm towels when you´ve got those autumn blues. And some... well, some are pink candy floss that tingles in your brain for three seconds and leaves a blissful void like a short, torrid love affair …
- The Little Paris Bookshop -  
Auch heute noch liebe ich Bücher, sind sie meine ständigen Begleiter: Ich gehe so gut wie nie ohne ein solches Packerl bedruckten Papiers aus dem Haus. Ich habe immer eines in der Tasche – für die U-Bahn, zur Stau-Überbrückung und für jede andere freie Leseminute, die sich erwartet oder unerwartet ergeben kann: fürs Wartezimmer genauso wie für das Schmökern im Café. Ich lese in der Badewanne oder im Liegestuhl, auf einer Bank im Park - und natürlich nach wie vor eingekuschelt auf dem Sofa oder ganz gemütlich im Bett.


Lesen ist aber nicht nur mir persönlich wichtig. Es ist auch (oder gerade!) im digitalen Zeitalter eine der wichtigsten Schlüsselkompetenzen jedes Menschen. Abgesehen von ganz viel Liebe kann man Kindern also kaum etwas Besseres mit auf den Lebensweg geben als einen Stapel Bücher und die Leidenschaft fürs Lesen. Deshalb bemühe ich mich - in bescheidenem Rahmen -, die Kinder, derer ich habhaft werden kann, für Gedrucktes und Geschriebenes zu begeistern. Ich missioniere aber nicht, ich lese - und lese vor.

Dabei kann Wunderschönes passieren. Ich denke dabei besonders an einen Sommer auf Mallorca. Dafür muss ich ein bisschen ausholen. Aber alle, die mir bis hierher gefolgt sind, sind – unterstelle ich mal – ohnehin "Leseratten" und haben wahrscheinlich nichts gegen einen kleinen Exkurs?! :)
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Fünf Jahre lang habe ich meine Sommer in einem kleinen Dorf im Inselinnern – seeehr weit weg vom Ballermann – verbracht. Im Haus der Mutter meines Ex-Freundes kam von Juli bis September stets großer Teil der nicht minder großen Familie zusammen. Das war – turbulent.

Mein zweiter Sommer dort war der schönste und unvergesslichste: Die kinderlosen Onkel (und die dazugehörigen nicht-angeheirateten Tanten, also ich) wurden „engagiert“, die Eltern während der Ferien für eine Weile zu entlasten und sich um die dort versammelten sechs Nichten und Neffen (damals zwischen vier und vierzehn) zu kümmern. Vor Urlaubsbeginn habe ich für jede und jeden ein Buch besorgt, auf gut Glück. Weder wusste ich von allen, ob sie lesen noch ob sie genau das gern lesen würden. Dennoch: Von mir gab es Geschichten als „Begrüßungsgeschenk“ und alle bedankten sich artig - immerhin.

Um die von unseren Wanderungen, Schnorchelausflügen und Grill-Gelagen (bei der Familie handelt es sich immerhin um Voll-, Halb-, Dreiviertel- und Viertelargentinier) aufgekratzte Rasselbande vor der angestrebten Nachtruhe etwas „runterzukühlen“, habe ich am zweiten Abend angefangen, ihnen aus einem Buch ihrer Wahl vorzulesen. Die Mitbringsel entpuppten sich als Glücksgriff. Aus dem so entstandenen kleinen Büchersortiment suchten sich „meine Kinder“ einen Krimi aus: 
„DER JUNGE, DER SICH IN LUFT AUFLÖSTE“.

Ich las also, und alle um mich herum waren mucksmäuschenstill. Seite um Seite – nichs. Keine Reaktion, keiner rührte sich. Keiner fragte, ob er mal aufstehen dürfe, weil er Durst hatte oder mal auf die Toilette musste. Das war – ungewöhnlich und irritierte mich deshalb ein wenig. Ich fragte mich, ob sie alle eingeschlafen seien, ob sie sich langweilten. Waren sie einfach zu gut erzogen, um mich zu unterbrechen und saßen sie die ihnen aufgedrückte Lesestunde einfach stumm aus?

Kapitel Eins war schließlich zu Ende: Ein Junge war aus dem London Eye, dem Riesenrad am Rande der Themse, verschwunden. Sein Freund blieb hilf- und ratlos zurück und fragte sich, wie er den Jungen bloß hatte aus den Augen verlieren können. Er würde sich auf den kommenden Seiten nun sicher auf die Suche nach ihm machen. Aber würde das die kleine, um mich versammelte Rasselbande überhaupt interessieren?

Ich erwartete eigentlich, alle würden jetzt schnell aufspringen und rasch das Weite suchen. Das Schweigen war mir Spanisch vorgekommen: Wann sind Kinder schon mal so still? Ich schaute von den Seiten hoch. Das hatte ich während des Lesens gar nicht erst nicht gewagt. Ich war überrascht: Die Kinder waren nicht eingeschlafen. Im Gegenteil. Sie waren hellwach. Sie rührten sich dennoch nicht. Waren sie vor Langeweile wie gelähmt? Ich wollte sie erlösen und machte Anstalten, das Buch beiseite zu legen. Es kam Protest und der Wunsch: „Bitte, lies weiter!“, „Noch ein Kapitel!“

Ich habe mich unglaublich gefreut. Jeden Abend suchten wir nun weiter nach dem verschwundenen Jungen aus dem Riesenrad. War er entführt worden? Von wem? War er weggelaufen? Warum? Das beschäftigte uns...

Am Tag vor meiner Abreise waren noch rund 100 Seiten offen. Wir waren dem Geheimnis ein gutes Stück näher gekommen, tappten aber irgendwie noch immer im Dunkeln. Und obwohl sie auch allein hätten weiterlesen können, bestanden alle darauf, dass ich ihnen das Ende selbst vorlesen sollte: Strand – hat heute Pause. Pool – nicht interessant momentan. Die weltbesten sechs nicht-leiblichen Nichten und Neffen und ich zogen uns einen Tag lang zurück, und lasen und lauschten und lasen und lauschten, bis der Junge endlich wieder auftauchte. Meine Lieben, danke fürs Zuhören und diese schöne Vorleseerinnerung!
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Übrigens: Jedes Buch zählt! Wenn wir auflisten, was wir im Laufe unseres Lebens gelesen haben, kann das viel über uns verraten:

 „Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist!“

Diese Erkenntnis verdanke ich meiner Lieblingsdozentin an der Universität Lüneburg. Sie ist Spezialistin für Lesesozialisation – und hat sich viel damit beschäftigt, wie man Jungs (oft notorische Nicht- oder Wenigleser), an die Bücher bringen kann: Boys and books.

Eigentlich hat sie damals angehende Grundschullehrer(innen) unterrichtet, aber ab und zu auch in meinem Fachbereich – den Angewandten Kulturwissenschaften – Seminare gegeben. Es waren die spannendsten und kreativsten auf meinem Stundenplan: Es ging um „Phantastische Kinder- und Jugendliteratur“, um das „Fräuleinwunder im deutschen Literaturbetrieb“, um „Harry Potter“ und um die „Schlüsselkompetenz Lesen“.

Wer als werdender Lehrer bei ihr studierte, musste zunächst eine Lesebiografie einreichen. In unserem Schlüsselkompetenz-Seminar haben wir zwei, drei anonymisierte Beispiele analysiert - und konnten uns hernach tatsächlich ein ganz gutes Bild von der Person hinter der Bücherliste machen...

Ihr könnt ja gleich weiter unten mal schauen, was Euch meine Top-Five-Listen verschiedener Buchgenre womöglich über mich verraten...

Vorher meine Quintessenz: Lesen ist wichtig und Bücher können helfen. Perdus Philosophie von der literarischen Apotheke ist jedenfalls kein fiktionaler Quatsch. Es gibt sogar einen Forschungszweig, der sich genau mit diesem Thema befasst. Lesenswert in diesem Zusammenhang unter anderem: "Die Romantherapie".

Lesen lehrt, Lesen kann heilen und Lesen nimmt uns mit – fast wörtlich. Denn beim Lesen passiert Spannendes im Gehirn: Wissenschaftler haben lesende Menschen und ihre Hirnaktivitäten mithilfe der Magnetresonanztomografie beobachtet. Es hat sich gezeigt, dass das Gehirn die „Bewegungen“ im Buch mitmacht: Ändert die Figur zum Beispiel ihren Aufenthaltsort, ist eine erhöhte Aktivität in genau den Hirnregionen festgestellt worden, die für räumliche Orientierung und Wahrnehmung verantwortlich sind.

Faszinierend, oder? 
Also: An die Bücher – fertig - los!


My all time favourite
  • Desirée – Annemarie Selinko
Das „Tagebuch“ der ersten Verlobten Napoleons, die später schwedische Königin wurde; behandelt Aufstieg und Fall des französischen Kaisers sowie die Zeit während und nach der französischen Revolution.

Schmöker
  • Die Morgengabe – Eva Ibbotson
  • Der Schatten des Windes – Carlos Ruiz Zafón
  • Die Bücherdiebin – Markus Zusak
  • Der Medicus – Noah Gordon
  • Die Dornenvögel – Colleen McCollough
Literarische(re)s
  • Schlafes Bruder – Robert Schneider
  • Jeder stirbt für sich allein – Hans Fallada
  • Schloss Gripsholm – Kurt Tucholsky
  • Schachnovelle – Stefan Zweig
  • Das kunstseidene Mädchen – Irmgard Keun
Thrill/Spannung
  • Die Einkreisung – Caleb Carr
  • Im Eishaus – Minette Walters
  • Der Puppengräber – Petra Hammesfahr
  • Illuminati – Dan Brown
  • Das Parfüm – Patrick Süsskind
Außer Konkurrenz
  • Mord im Orient-Express – Agatha Christie
English novels
  • The Shell Seekers – Rosamunde Pilcher (Kein allgemeiner Aufschrei jetzt, bitte: Das ist eine wirklich bezaubernde Geschichte, vor allem auf Englisch gelesen!)
  • Pride and Prejudice – Jane Austen
  • Pillars of the Earth – Ken Follett
  • The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society – Mary Ann Shaffer
  • The Rosie Project – Graeme Simsion
Sachbuch
  • Blink – Die Macht des Moments – Malcolm Gladwell
  • Psychopathen: Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann – Kevin Dutton
  • Evas Erwachen – Alice Miller
  • Am Anfang war Erziehung – Alice Miller
  • Die Liebe - und wie sich Leidenschaft erklärt – Bas Kast
Kinder und Jugend - „Klassiker“ aus meiner Kinderzeit
  • Die Brüder Löwenherz (stellvertretend für fast alle Lindgrens) – Astrid Lindgren
  • Das doppelte Lottchen – Erich Kästner
  • Emil und die Detektive – Erich Kästner
  • Die unendliche Geschichte – Michael Ende
  • Momo - Michael Ende
Kinder und Jugend – neu(er)
  • Harry Potter (speziell „The order of the Phoenix“) – Joanne K. Rowling
  • Der Junge im gestreiften Pyjama – John Boyne
  • Der Junge, der sich in Luft auflöste – Siobhan Dowd
  • Die Wahrheit, wie Delly sie sieht – Katherine Hannigan
  • Tintenherz – Cornelia Funke