Montag, 14. September 2015

Lesen und lesen lassen

Zurzeit lebe ich in einem Ort unten an der südfranzösischen Küste. Jeden Morgen gehe ich im Meer schwimmen und lasse mich von Wasser und Wellen treiben. Das habe ich den ganzen Sommer über so gemacht, seit ich hier angekommen bin. 

Bis vor Kurzem habe ich in Paris gelebt, in 27 Rue Montagnard. Ich bin Buchhändler. Die Bezeichnung "literarischer Apotheker" trifft es allerdings besser. Denn ich "verschreibe" den Menschen, die zu mir kommen, das passende Buch zu ihrer Situation: Hat jemand Liebeskummer, eine berufliche Sinnkrise oder große Fragen an sich und seine Existenz?

Ich bin überzeugt: Für alles wurde schon das Richtige niedergeschrieben - von Orwell und Wilde oder von Ringelnatz und Kästner zum Beispiel. Mein Laden, die Barke "Lulu", lag lange angetäut am Ufer der Seine. Doch eines Tages, als mich meine Vergangenheit eingeholt hat, habe ich die Seile einfach gelöst und bin mit ihr, meinem Nachbarn - dem Schriftsteller Max - und meinen zwei Katzen Lindgren und Kafka quer durch Frankreich gefahren. Nicht um weiter wegzulaufen, sondern um meinen Frieden zu finden. Und das habe ich.


Zurzeit bin ich Jean Perdu, die Hauptfigur des "LITTLE PARIS BOOKSHOP", des Buches, das ich gerade lese. Ich bin ihm – auf meinem Balkon in der Sonne sitzend - durch Frankreich gefolgt, habe seinen Kummer geteilt und miterlebt, wie er neuen Lebensmut gefasst hat. Ich habe die vielen klugen Sätze in mich aufgenommen, die dieses Buch enthält – über das Leben, das Lesen, das Lieben und das Leiden beziehungsweise darüber, wie man es überwinden kann.

Jeans Geschichte ist eine Geschichte, wie ich sie mag. Eine Geschichte, die mich mitnimmt in eine andere Welt. Und eine, aus der ich lernen kann. Genauso, als hätte ich Jean Perdu auf der „Lulu“ um einen Buchtipp gebeten und er hätte zielgenau exakt dieses Buch für mich aus dem Regal gezogen.
… Perdu reflected that it was a common misconception that booksellers looked after books. They look after people ...
- The Little Paris Bookshop -  
Geschichten haben mich von Klein auf fasziniert. Ich konnte meiner Oma stundenlang zuhören, wenn sie mir aus "BAMBI", dem "ROSEN-RESLI", "TANNENWALDS KINDERSTÜBCHEN" oder "GRIMMS MÄRCHEN" vorgelesen hat. Als ich endlich selber lesen konnte, bin ich "RONJA RÄUBERTOCHTER" auf ihren Streifzügen durch die schwedischen Wälder gefolgt, habe als einer von "EMIL UND DIE DETEKTIVE" das Berlin der Zwanziger Jahre nach dem gemeinen Gelddieb durchkämmt, war mit "HANNI UND NANNI" und ihren Freundinnen in England im Internat, habe mit Bastian und Atreju in der "UNENDLICHEN GESCHICHTE" versucht, Fantasien - das Reich der Kindlichen Kaiserin - vor dem Nichts zu bewahren oder wollte zusammen mit "MOMO" die Welt vor den Zeitdieben retten.

Ich habe, glaube ich, nie wieder so intensiv gelesen, wie als Mädchen – sonntags morgens unter der warmen Decke mit ein paar Schokobonbons, die mir die Zähne verklebt haben, jeden Abend mindestens eine halbe Stunde vorm Einschlafen, in meinem Lieblings-Ohrensessel im Wohnzimmer meiner Eltern, im Urlaub an Badesee oder Nordseestrand und an jedem anderen möglichen Ort. Ich bin damals ganz eingetaucht in die Welt der Bücher und konnte beim Lesen alles um mich herum vergessen.
… Some novels ar loving, lifelong companions; some give you a clip around the ear; others are friends who wrap you in warm towels when you´ve got those autumn blues. And some... well, some are pink candy floss that tingles in your brain for three seconds and leaves a blissful void like a short, torrid love affair …
- The Little Paris Bookshop -  
Auch heute noch liebe ich Bücher, sind sie meine ständigen Begleiter: Ich gehe so gut wie nie ohne ein solches Packerl bedruckten Papiers aus dem Haus. Ich habe immer eines in der Tasche – für die U-Bahn, zur Stau-Überbrückung und für jede andere freie Leseminute, die sich erwartet oder unerwartet ergeben kann: fürs Wartezimmer genauso wie für das Schmökern im Café. Ich lese in der Badewanne oder im Liegestuhl, auf einer Bank im Park - und natürlich nach wie vor eingekuschelt auf dem Sofa oder ganz gemütlich im Bett.


Lesen ist aber nicht nur mir persönlich wichtig. Es ist auch (oder gerade!) im digitalen Zeitalter eine der wichtigsten Schlüsselkompetenzen jedes Menschen. Abgesehen von ganz viel Liebe kann man Kindern also kaum etwas Besseres mit auf den Lebensweg geben als einen Stapel Bücher und die Leidenschaft fürs Lesen. Deshalb bemühe ich mich - in bescheidenem Rahmen -, die Kinder, derer ich habhaft werden kann, für Gedrucktes und Geschriebenes zu begeistern. Ich missioniere aber nicht, ich lese - und lese vor.

Dabei kann Wunderschönes passieren. Ich denke dabei besonders an einen Sommer auf Mallorca. Dafür muss ich ein bisschen ausholen. Aber alle, die mir bis hierher gefolgt sind, sind – unterstelle ich mal – ohnehin "Leseratten" und haben wahrscheinlich nichts gegen einen kleinen Exkurs?! :)
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Fünf Jahre lang habe ich meine Sommer in einem kleinen Dorf im Inselinnern – seeehr weit weg vom Ballermann – verbracht. Im Haus der Mutter meines Ex-Freundes kam von Juli bis September stets großer Teil der nicht minder großen Familie zusammen. Das war – turbulent.

Mein zweiter Sommer dort war der schönste und unvergesslichste: Die kinderlosen Onkel (und die dazugehörigen nicht-angeheirateten Tanten, also ich) wurden „engagiert“, die Eltern während der Ferien für eine Weile zu entlasten und sich um die dort versammelten sechs Nichten und Neffen (damals zwischen vier und vierzehn) zu kümmern. Vor Urlaubsbeginn habe ich für jede und jeden ein Buch besorgt, auf gut Glück. Weder wusste ich von allen, ob sie lesen noch ob sie genau das gern lesen würden. Dennoch: Von mir gab es Geschichten als „Begrüßungsgeschenk“ und alle bedankten sich artig - immerhin.

Um die von unseren Wanderungen, Schnorchelausflügen und Grill-Gelagen (bei der Familie handelt es sich immerhin um Voll-, Halb-, Dreiviertel- und Viertelargentinier) aufgekratzte Rasselbande vor der angestrebten Nachtruhe etwas „runterzukühlen“, habe ich am zweiten Abend angefangen, ihnen aus einem Buch ihrer Wahl vorzulesen. Die Mitbringsel entpuppten sich als Glücksgriff. Aus dem so entstandenen kleinen Büchersortiment suchten sich „meine Kinder“ einen Krimi aus: 
„DER JUNGE, DER SICH IN LUFT AUFLÖSTE“.

Ich las also, und alle um mich herum waren mucksmäuschenstill. Seite um Seite – nichs. Keine Reaktion, keiner rührte sich. Keiner fragte, ob er mal aufstehen dürfe, weil er Durst hatte oder mal auf die Toilette musste. Das war – ungewöhnlich und irritierte mich deshalb ein wenig. Ich fragte mich, ob sie alle eingeschlafen seien, ob sie sich langweilten. Waren sie einfach zu gut erzogen, um mich zu unterbrechen und saßen sie die ihnen aufgedrückte Lesestunde einfach stumm aus?

Kapitel Eins war schließlich zu Ende: Ein Junge war aus dem London Eye, dem Riesenrad am Rande der Themse, verschwunden. Sein Freund blieb hilf- und ratlos zurück und fragte sich, wie er den Jungen bloß hatte aus den Augen verlieren können. Er würde sich auf den kommenden Seiten nun sicher auf die Suche nach ihm machen. Aber würde das die kleine, um mich versammelte Rasselbande überhaupt interessieren?

Ich erwartete eigentlich, alle würden jetzt schnell aufspringen und rasch das Weite suchen. Das Schweigen war mir Spanisch vorgekommen: Wann sind Kinder schon mal so still? Ich schaute von den Seiten hoch. Das hatte ich während des Lesens gar nicht erst nicht gewagt. Ich war überrascht: Die Kinder waren nicht eingeschlafen. Im Gegenteil. Sie waren hellwach. Sie rührten sich dennoch nicht. Waren sie vor Langeweile wie gelähmt? Ich wollte sie erlösen und machte Anstalten, das Buch beiseite zu legen. Es kam Protest und der Wunsch: „Bitte, lies weiter!“, „Noch ein Kapitel!“

Ich habe mich unglaublich gefreut. Jeden Abend suchten wir nun weiter nach dem verschwundenen Jungen aus dem Riesenrad. War er entführt worden? Von wem? War er weggelaufen? Warum? Das beschäftigte uns...

Am Tag vor meiner Abreise waren noch rund 100 Seiten offen. Wir waren dem Geheimnis ein gutes Stück näher gekommen, tappten aber irgendwie noch immer im Dunkeln. Und obwohl sie auch allein hätten weiterlesen können, bestanden alle darauf, dass ich ihnen das Ende selbst vorlesen sollte: Strand – hat heute Pause. Pool – nicht interessant momentan. Die weltbesten sechs nicht-leiblichen Nichten und Neffen und ich zogen uns einen Tag lang zurück, und lasen und lauschten und lasen und lauschten, bis der Junge endlich wieder auftauchte. Meine Lieben, danke fürs Zuhören und diese schöne Vorleseerinnerung!
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Übrigens: Jedes Buch zählt! Wenn wir auflisten, was wir im Laufe unseres Lebens gelesen haben, kann das viel über uns verraten:

 „Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist!“

Diese Erkenntnis verdanke ich meiner Lieblingsdozentin an der Universität Lüneburg. Sie ist Spezialistin für Lesesozialisation – und hat sich viel damit beschäftigt, wie man Jungs (oft notorische Nicht- oder Wenigleser), an die Bücher bringen kann: Boys and books.

Eigentlich hat sie damals angehende Grundschullehrer(innen) unterrichtet, aber ab und zu auch in meinem Fachbereich – den Angewandten Kulturwissenschaften – Seminare gegeben. Es waren die spannendsten und kreativsten auf meinem Stundenplan: Es ging um „Phantastische Kinder- und Jugendliteratur“, um das „Fräuleinwunder im deutschen Literaturbetrieb“, um „Harry Potter“ und um die „Schlüsselkompetenz Lesen“.

Wer als werdender Lehrer bei ihr studierte, musste zunächst eine Lesebiografie einreichen. In unserem Schlüsselkompetenz-Seminar haben wir zwei, drei anonymisierte Beispiele analysiert - und konnten uns hernach tatsächlich ein ganz gutes Bild von der Person hinter der Bücherliste machen...

Ihr könnt ja gleich weiter unten mal schauen, was Euch meine Top-Five-Listen verschiedener Buchgenre womöglich über mich verraten...

Vorher meine Quintessenz: Lesen ist wichtig und Bücher können helfen. Perdus Philosophie von der literarischen Apotheke ist jedenfalls kein fiktionaler Quatsch. Es gibt sogar einen Forschungszweig, der sich genau mit diesem Thema befasst. Lesenswert in diesem Zusammenhang unter anderem: "Die Romantherapie".

Lesen lehrt, Lesen kann heilen und Lesen nimmt uns mit – fast wörtlich. Denn beim Lesen passiert Spannendes im Gehirn: Wissenschaftler haben lesende Menschen und ihre Hirnaktivitäten mithilfe der Magnetresonanztomografie beobachtet. Es hat sich gezeigt, dass das Gehirn die „Bewegungen“ im Buch mitmacht: Ändert die Figur zum Beispiel ihren Aufenthaltsort, ist eine erhöhte Aktivität in genau den Hirnregionen festgestellt worden, die für räumliche Orientierung und Wahrnehmung verantwortlich sind.

Faszinierend, oder? 
Also: An die Bücher – fertig - los!


My all time favourite
  • Desirée – Annemarie Selinko
Das „Tagebuch“ der ersten Verlobten Napoleons, die später schwedische Königin wurde; behandelt Aufstieg und Fall des französischen Kaisers sowie die Zeit während und nach der französischen Revolution.

Schmöker
  • Die Morgengabe – Eva Ibbotson
  • Der Schatten des Windes – Carlos Ruiz Zafón
  • Die Bücherdiebin – Markus Zusak
  • Der Medicus – Noah Gordon
  • Die Dornenvögel – Colleen McCollough
Literarische(re)s
  • Schlafes Bruder – Robert Schneider
  • Jeder stirbt für sich allein – Hans Fallada
  • Schloss Gripsholm – Kurt Tucholsky
  • Schachnovelle – Stefan Zweig
  • Das kunstseidene Mädchen – Irmgard Keun
Thrill/Spannung
  • Die Einkreisung – Caleb Carr
  • Im Eishaus – Minette Walters
  • Der Puppengräber – Petra Hammesfahr
  • Illuminati – Dan Brown
  • Das Parfüm – Patrick Süsskind
Außer Konkurrenz
  • Mord im Orient-Express – Agatha Christie
English novels
  • The Shell Seekers – Rosamunde Pilcher (Kein allgemeiner Aufschrei jetzt, bitte: Das ist eine wirklich bezaubernde Geschichte, vor allem auf Englisch gelesen!)
  • Pride and Prejudice – Jane Austen
  • Pillars of the Earth – Ken Follett
  • The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society – Mary Ann Shaffer
  • The Rosie Project – Graeme Simsion
Sachbuch
  • Blink – Die Macht des Moments – Malcolm Gladwell
  • Psychopathen: Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann – Kevin Dutton
  • Evas Erwachen – Alice Miller
  • Am Anfang war Erziehung – Alice Miller
  • Die Liebe - und wie sich Leidenschaft erklärt – Bas Kast
Kinder und Jugend - „Klassiker“ aus meiner Kinderzeit
  • Die Brüder Löwenherz (stellvertretend für fast alle Lindgrens) – Astrid Lindgren
  • Das doppelte Lottchen – Erich Kästner
  • Emil und die Detektive – Erich Kästner
  • Die unendliche Geschichte – Michael Ende
  • Momo - Michael Ende
Kinder und Jugend – neu(er)
  • Harry Potter (speziell „The order of the Phoenix“) – Joanne K. Rowling
  • Der Junge im gestreiften Pyjama – John Boyne
  • Der Junge, der sich in Luft auflöste – Siobhan Dowd
  • Die Wahrheit, wie Delly sie sieht – Katherine Hannigan
  • Tintenherz – Cornelia Funke

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