Freitag, 15. April 2016

Product Placement - Philosophieren statt Fernsehen

Vintage Bild einer rothaarigen Frau vorm Fernseher

Action, bitte!? 


Ich bin im Freitag-Abend-Modus: Es war eine außergewöhnlich anstrengende Woche. Beruflicherseits sehr diskussionslastig - und ich habe heute daher noch eine gewisse Grundanspannung mit nach Hause gebracht. Bevor ich mich ins Nachtleben stürze - oder ersatzweise in eine traumhafte Nacht zuhause im Bett - habe ich den Fernseher eingeschaltet. Zum Abschalten. 
Ein TV Gerät - altes Modell


Es ist 18.35 Uhr. 
Auf sixx - dem Sender für die Frau - läuft gerade "Privat Practice". Den "Grey´s Anatomy"-Ableger habe ich schon lange nicht mehr geguckt. 
Aber warum nicht mal wieder nachsehen, was in der turbulenten Gemeinschaftspraxis im sonnigen Los Angeles los ist? 
Dabei muss ich meinen Geist erst einmal nicht besonders bemühen - das ist für die nächsten ungefähr 45 Minuten goldrichtig. 


Fernseher ein - Kopf aus


Als ich zuschalte, erzählt eine Patientin Dr. Sheldon Wallace gerade von ihren traumatischen Erlebnissen - es wühlt sie sichtlich auf. Die Dame hat Schuldgefühle: Sie hat einen Flugzeugabsturz überlebt, die Frau im Sitz neben ihr nicht. Sie macht sich Vorwürfe, dass sie sich selbst in Sicherheit gebracht hat. 

Wallace, seines Zeichens Psychologe, versucht ihr - behutsam und beruhigend - klar zu machen, dass sie - wäre sie nicht um ihr Leben gerannt - wohl auch gestorben wäre und vermutlich ohnehin nicht hätte helfen können. Da braust die Frau plötzlich auf: Sie breche die Therapie ab - und stürzt aus der Praxis. Nach diesem dramatischen Abgang: 


Werbepause


Es ist 18.45 Uhr - und ich bin nach zehn Minuten fernsehen im "Ich lasse mich berieseln"-Modus angekommen. Das fühlt sich gut an. Viel relaxter. Ich gewinne rasch Abstand zum Alltag. Plötzlich schaltet sich der Verstand wieder zu. Ich bin aus irgendeinem Grund irritiert und wache deshalb langsam aus dem TV-Koma, in das mich die bunten Clips, die gerade laufen, schon so schön gehüllt hatten. Hier stimmt doch was nicht!? 


Fernbedienung - ein Ausschnitt
Eben noch - so viel habe ich im Werbepausen-Delirium mitbekommen - hat eine einschlägig bekannte Marke für Verhütungsmittel die Zuschauer über den Bildschirm animierend aufgefordert: "Werdet zu Helden der Nacht!" Möglich machen das angeblich Kondome, die sich fast so natürlich anfühlen sollen wie der echte "Haut auf Haut"-Kontakt. Noch besser werde das Liebesspiel mit dem "Pleasure Ring" - einem Sex Toy, das dem Spot zufolge einen enormen Lustgewinn bescheren kann. Mann UND Frau! Ein guter Hinweis, aber um diese Zeit? 


Cut!


Nachdem soeben ein Paar nach dem Koitus erschöpft in die Kissen gesunken ist, wird es jetzt - Sekundenbruchteile später - lauter, bunter, noch "werbiger", noch eine Spur aufdringlicher. Zeichentrickfiguren flimmern über meinen Flachbildschirm. In Minutia kämpfen kugelförmige Kreaturen und insektenartige Spezies gegen Monster-Schnecken. Ich darf, nein, MUSS auch dabei sein, lässt mich der Clip wissen. "Best Fiends" ist die App, die ich mir jetzt unbedingt installieren soll, um auf 400 Leveln mitzuzocken. 30 Millionen Menschen machen das wohl schon...

Das Spiel wird von begeisterten Gamern aller Generationen rund um den Globus gespielt. Es hat keine Altersfreigabe. Der Vorgänger-Spot hingegen hätte sie vielleicht nötig. Was für ein krasser Cut: Vom Liebes- zu einem Computerspiel, das (unter anderem) eine Zielgruppe deutlich unter 18 Jahren anspricht. Selbst ohne diesen Kontrast wundere ich mich über die Ausstrahlung des nicht ganz jugendfreien Commercials zu einem Zeitpunkt vor 19 Uhr - und beginne zu sinnieren. Mit dem serienseligen Dämmerzustand ist es vorbei. 


Abschalten adé


Mini-Fernsehapparat auf einem SchreibtischstuhlIch sehe folgende Szene vor Augen: Eine Mutter, nennen wir sie Sabine Müller, gönnt sich, wie ich, eine Folge ihrer Lieblingssendung. Die Kinder toben vorm Zubettgehen noch ein bisschen durchs Wohnzimmer. Am Rande registrieren sie den Aufruf an die "Helden der Nacht". Als nächstes erfahren sie von der Wirkung des Love Rings - und wollen natürlich wissen, was das Spannendes ist und ob sie das nicht auch haben dürfen. Sabine kommt ins Schwitzen. 

Sie kann natürlich genausogut eine super-souveräne, vollkommen unverklemmte Mutter sein und spontan kindgerechte Erklärungen finden, ohne dass ihre Fassung ins Wanken gerät. Darum geht es nicht. Auch nicht darum, ob oder ob die Kinder durch die Erkenntnis Schaden nehmen könnten, dass es seltsame Spiel(zeug)e für Erwachsene gibt. 


Szenenwechsel


Ich will in meinem inneren Dialog auch nicht durchdiskutieren, ob Sabine nicht sowieso besser aufs Fernsehen verzichtet, solange die Kleinen wach und im Zimmer sind. Ich wollte nicht philosophieren, ich wollte fernsehen! Aber die Kombination von Kugelmonster und Kondomen wirft Fragen auf. Viele: Wer bastelt eigentlich Werbeblöcke? Wer entscheidet über die Reihenfolge? Zählt nur der zahlende Kunde, der den Sendeplatz gebucht hat? Gibt es die Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) oder die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) noch? Wollte womöglich hinter den Kulissen der Sendeanstalt jemand durch die schräge Kombination der Spots Humor beweisen - oder war das unfreiwillig absurd?  

Hat man mit solchen Hirngespinsten begonnen, ist das Gedankenkarrussell kaum zu stoppen. Und dann kommt der kreative Schub: Darüber könnte ich doch endlich mal wieder bloggen. Eine Glosse. Statt vorm Fernsehapparat sitze ich jetzt vorm Laptop. Ich schreibe statt zu chillen.


Schleichwerbung


Fernseher im Stil der 1970er-Jahre
Ich mache einen gedanklichen Ausflug in meine Kindheit, als es noch Sendeschluss und Testbild gab. Werbefilme liefen damals im Vorabendprogramm - und nur da. Zwischen "Sandmännchen" und "Tagesschau".

Ich fand die Clips klasse und war empfänglich für die Verbrauchertipps: Ich wollte meine Haare mit dem Shampoo waschen, das nach Apfel duftete. Ich bestand darauf, dass meine Familie den gleichen Kaffee trinkt wie die sympathische Frau Sommer. Ich wusste aus der Werbung, dass auf den Flaschen eines bestimmten Geschirrspülmittels blumig-bunte Aufkleber pappten. Kurze Zeit später klebten sie auf den Fliesen in der Küche meiner Oma... 

Die Serie läuft längst weiter. Pete Wilder, ein Allgemeinarzt, der sich auf alternative Medizin spezialisiert hat, behandelt eine neue Patientin: Die Frau reagiert allergisch auf das Sperma ihres Mannes. Sie landet als Notfall in der Praxis, weil trotz entsprechender Verhütungs- und Vorsichtsmaßnahmen ein Malheur mit dem Kondom (nicht dem aus der Werbung vorhin hoffentlich) passiert ist. Ihr ist nach dem Liebesakt plötzlich die Luft weggeblieben. Nun wird nach Auswegen gesucht. Natürlich leistet die Sendung hier wichtige Aufklärung. Aber auch das zu einer reichlich frühen Sendezeit, oder nicht?

Sendeschluss


Ich komme zu folgender Erkenntnis: Das seltsame Zusammenspiel der Spots mag seinen Sinn gehabt haben. Lebenshilfe verpackt in Verbraucherinformation: Die Wahl des richtigen Verhütungsmittels ist wichtig bis lebensrettend. Nicht nur aus den bekannten Gründen, sondern - das wissen wir nun - auch dann, wenn man ungeahnte Unverträglichkeiten gegen Körpersubstanzen des Partners entwickelt. 

Solche wichtigen Erkenntnisse muss man natürlich in Ruhe aufnehmen dürfen. Da könnten die Kinder doch künftig mit einer Runde "Best Feinds" beschäftigt werden, während Mama sich vorm Fernseher weiterbildet. Nur bis zum Schluss der Sendung selbstverständlich. Damit es nicht allzu politisch unkorrekt wird. À propos: Die aufschlussreiche Folge von "Privat Practice" ist vorbei. Der Blog-Beitrag ist auch fast fertig. Ich folge deshalb jetzt dem Aufruf des kürzlich verstorbenen TV-Helden Peter Lustig aus Löwenzahn


Abschalten!


Abbildung des Testbilds nach Sendeschluss


QUELLENANGABE
Die in diesem Beitrag verwendeten Bilder stammen von der Internetseite Pixabay.

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